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Nürnberger Menschenrechtszentrum

Interview mit Alejandro Franco über sein Exil in der BRD und die Rolle der Solidarität

Verfolgung, Flucht, Asyl – Chilenisches Exil und Solidarität in der Bundesrepublik Deutschland

Nach dem Putsch General Pinochets 1973 in Chile wurden Tausende vom neuen Regime ermordet „verschwunden“ und gefoltert. Einigen gelang die Flucht, aber Aufnahme in einem andern Land zu finden, war auch damals nicht einfach. Nach dem Ende der Diktatur kehrten die meisten wieder in ihre Heimat zurück.

Nicole Scharrer erzählt die Geschichte der Chile-Solidarität in der BRD und stellt einen der damaligen Flüchtlinge vor, der geblieben ist und seither das kulturelle Leben in Nürnberg bereichert.

 

 

Interview mit Alejandro Franco über sein Exil in der BRD und die Rolle der Solidarität

 

„Nürnberg ist meine Heimat geworden"

 

Den Militärputsch gegen die demokratisch gewählte Regierung Salvador Allendes hat Alejandro Franco in Concepción erlebt. Nachdem er 1975 drei Monate lang gefangen genommen wurde, ging er 1977 schließlich ins Exil in die Bundesrepublik Deutschland. Seit 1978 lebt er in Nürnberg. Hier arbeitet er heute als Dozent an der Universität Erlangen-Nürnberg und betreibt zusammen mit seiner Frau die Galerie Arauco, die neben lateinamerikanischem Wein und Schmuck auch Kunst aus dem ganzen Kontinent bietet.

 

Wie hast du das Ende der Demokratie mit dem Militärputsch am 11. September 1973 erlebt?

Ich war Student an der Universität von Concepción. Ich war politisch sehr involviert. Damals hat man einen Putsch schon erwartet und wir haben versucht, uns darauf vorzubereiten. Wir glaubten, dass sich die Oberschicht mit einem Putsch des Militärs ihre Privilegien sichern wollte.

An den Tagen vor dem Putsch war ich gar nicht an der Universität. Ich hatte in einem Studentenwohnheim im Barrio Universitario gelebt, aber da wir schon einen Putsch erwartet haben, hatte ich zu der Zeit gar nicht dort übernachtet. Den 10. September verbrachte ich mit Freunden der Gruppe, in der ich politisch aktiv war. Wir hatten Besprechungen. Das ging sehr lang, ungefähr bis um 3 Uhr nachts. Trotzdem bin ich noch nach Hause gegangen. Früh morgens kamen Leute, die an die Tür geklopft haben uns sagten: „Das Militär ist da!“ Dann habe ich aus dem Fenster gesehen, da waren Jeeps und Wagen vom Militär. Ich hab mich gleich angezogen und bin raus gegangen in Richtung der Wirtschaftsfakultät der Uni. Da hab ich schon gesehen, dass einige Militärs in das Studentenwohnheim rein gegangen sind und Leute verhaftet haben.

Dann habe ich mich mit meinen Freunden von letzter Nacht getroffen, um ihnen zu sagen, dass es einen Putsch gegeben hatte. Auf dem Weg sah ich überall Militärs. Die wichtigsten Punkte der Stadt, wie die Verwaltung, waren schon besetzt. Im Radio hat man schon Militärmärsche und Befehle gehört. Es war also deutlich, dass sie die wichtigsten Positionenschon eingenommen hatten.

 

Wie ging es dann für dich weiter?

Nach dem Putsch konnte man nicht mehr im Studentenwohnheim leben. Ich habe dann erstmal bei der Familie eines Freundes gelebt, der auch politisch aktiv war. Damals wurden komplette Viertel geschlossen und jedes Haus durchsucht. Das nannte man „operaciones rastrillo“. Eines Tages, als wir abends nach der Ausgangssperre – das war sehr früh, so gegen 7 oder 8 Uhr abends – gegessen haben, kamen Militärs ins Haus. Sie suchten den Bruder meines Freundes. Weil sie ihn nicht gefunden haben, nahmen sie alle jüngeren Leute mit – den Sohn, den Cousin und mich – und brachten uns in eine Kaserne.

Dort waren wir so drei, vier Tage und ich habe schon mitbekommen, dass gefoltert, geschlagen und verhört wurde. Ich hatte damals Glück gehabt. Ich studierte Soziologie im Erstfach und Betriebswirtschaft im Zweitfach. Als ich bei einem Verhör gefragt wurde, was ich studierte, wusste ich schon, was ich sagen musste: „Betriebswirtschaft“. Da antworteten sie: „Zum Glück studierst du nicht Soziologie. Die nehmen wir nämlich gleich mit zur Isla Quiriquina.“ Dort gab es so eine Art KZ, wo sie jeden Tag hunderte Leute hingebracht haben, die nie zurückgekommen sind.

Am Tag darauf wurde in einem Geländewagen in der Stadtmitte abgesetzt. Das war meine erste Erfahrung, die mir zeigte, wie schlimm es war. Obwohl ich selbst nicht gefoltert worden war, habe ich mitbekommen, wie das anderen passiert ist.

 

Ab wann war dann für dich klar, dass du ins Exil gehst?

Ich wollte nie ins Exil gehen. Auch nach dieser Erfahrung habe ich nicht an Exil gedacht. Ich hatte eher gedacht, man könne noch was machen, damit die Militärherrschaft verschwindet. Ich war Mitglied einer politischen Gruppe, des Movimiento de Izquierda Revolucionaria - MIR. Ich fing an, in der Personalabteilung der Steinkohle - Firma Empresa Nacional del Carbón - ENACAR - in Lota zu arbeiten. Gleichzeitig habe ich mich aber auch in einem Sozialprogramm für Arbeiter engagiert. Das hat sehr gut funktioniert, denn in Lota hab ich gearbeitet, politisch aktiv war ich aber in einer anderen Stadt.

1975 wurde ich aber wieder verhaftet und kam ins Gefängnis. Zuerst suchten sie mich bei der Arbeit, dort war ich an diesem Tag aber nicht. Also kamen sie in meine Wohnung. Als es an der Tür klopfte, sagte mein siebter Sinn mir sofort: „Die suchen mich. “Es war der Geheimdienst. Sie legten mir eine Augenbinde an und nahmen mich mit. Ich kannte mich sehr gut aus in der Gegend und ahnte deshalb, wo sie mich hinbrachten. Ich er innere mich, dass ich Möwen gehört habe. Es war der Base Naval in Talcahuano, ein Militärstützpunkt der Marine. Das war meine erste schlimme Erfahrung mit einem KZ. Es war eine Folterfabrik, das kann man schon so sagen.

Sie wussten nicht viel über mich, eigentlich stand Aussage gegen Aussage. Es war sehr schlimm dort. Irgendwann brachten sie mich in ein Gefängnis nach Concepción. Das  Gefängnis war im Vergleich zum KZ ein Luxus, da gab es ein bisschen Ruhe.  Den Häftlingen in diesem Gefängnis wurde entweder der Prozess gemacht oder sie wurden freigelassen, das war dort also eine Art Übergangsphase. Damals sagte man: „Wenn sie dich erst abholen und dann wieder zurück zum nach Talcahuano bringen, bedeutet das normalerweise: ‘Du stirbst ́.“

Und dann passierte das bei mir. Sie haben mich wieder dorthin zurück gebracht. Ständig sagten sie mir: „Wir wissen mehr über dich, jetzt musst du sprechen“. Dieses Mal wurde ich allerdings nicht gefoltert, man sagte mir nur: „Du machst jetzt eine ganz lange Reise.“ Das konnte man damals auf verschiedene Weise interpretieren: Entweder du gehst nach Santiago zu einem anderen Geheimdienst oder du gehst nach Colonia Dignidad, zu dem Zeitpunkt wusste ich schon davon. Oder eben in eine andere Welt. Eigentlich hat man gar keine Angst mehr zu sterben. Ich habe mich psychisch schon ein bisschen auf die „lange Reise“ vorbereitet. Ungefähr einen Tag später hat man mich dann wieder in das Gefängnis zurück gebracht und schließlich freigelassen, das war sehr seltsam.

Mein Vater war früher auf der Militärschule gewesen und hatte dort deshalb viele Freunde, auch hohe Offiziere. Durch diese Kontakte hatte er versucht, mir zu helfen, als ich festgenommen wurde. Einer dieser guten Freunde meines Vaters war Schwager des Verteidigungsministers. Als ich frei kam, war mein Vater in einem Krankenhaus in Santiago. Er war von einer Treppe gestürzt und hatte sich die Hüfte und das Bein gebrochen. Man sagte mir, er liege im Sterben. Da reiste ich nach Santiago, um ihn zu besuchen. Er erzählte mir, dass dieser Freund ihm einen Brief geschrieben hatte, als ich noch im Gefängnis war. Darin sagte er ihm, Pinochet hätte angeordnet, sich nicht in Sachen des Geheimdienstes einzumischen, dass ich sehr gefährlich sei und zu einer Gruppe des bewaffneten Widerstandes gehöre, die gegen die Militärdiktatur war, dass das 300 bewaffnete Personen gewesen seien und so weiter. Mein Vater hat mich dann umarmt und mir gesagt, er verstehe das, lieber so als ein Verräter.  Meine Vermutung ist, dass dieser Freund trotzdem etwas mit meiner Freilassung zu tun hatte, dass er nach dem Unfall meines Vaters Mitleid hatte. Ich habe seiner Frau als Dankeschön einen Blumenstraß geschickt.

Ich war dann einen Monat lang in Santiago. Meinem Vater ging es langsam besser. Diese Möglichkeit hätte ich dann eigentlich schon nutzen können, um das Land zu verlassen. Stattdessen bin ich aber zurück nach Concepción gegangen und habe wieder in der Firma gearbeitet. Eines Tages kam wieder jemand vom Geheimdienst in mein Büro und drohte mir. Sollte mich jemand vom Widerstand kontaktieren, hätte ich die Pflicht, das sofort zu melden. Ich bin bis 1977 dort geblieben, als unsere Wohnung, in der ich mit meiner damaligen Freundin gelebt hatte, gestürmt und alles darin kaputt geschlagen wurde. Es war ein Zufall, dass wir an dem Tag nicht zu Hause waren.

Weil ich 1975 schon im Gefängnis war, gab es eine Akte von mir in der Vicaría de la Solidaridad in Santiago. Das war eine Organisation, die politisch Gefangene unterstützt hat. Sie halfen mir, aus Concepción abzureisen.Zuerst haben wir eine Nacht am Meer geschlafen, danach reisten wir weiter nach Santiago, wo wir uns erst mal versteckt hielten. In der Vicaría de la Solidaridad sagte man uns, man würde uns aus Chile wegbringen, wahrscheinlich nach Schweden. Das war eines der Länder, die am schnellsten und ohne große Probleme Menschen aufgenommen hatten, auch ohne Visum. Und wenn es brennt, kannst du nicht wählen. Das wollte ich auch gar nicht, ich hatte keinen Einfluss darauf. Schließlich wurde mir gesagt, dass ich am nächsten Tag nach Deutschland gehen würde. Einige Leute von der  Vicaría und von Amnesty International haben uns begleitet. Dann saß ich plötzlich im Flugzeug und kam nach Frankfurt.

 

Wie war die Ankunft in Deutschland für dich?

Als wir ankamen, erwartete uns jemand mit einem Schild, auf dem mein Familienname „Franco“ stand. Wir haben noch kein Deutsch gesprochen und deshalb noch nicht viel verstanden. Wir warteten nochmal vier oder fünf Stunden, bis wir wieder zu einem Flugzeug gebracht wurden. Als wir dann wieder gelandet sind, wusste ich erst nicht, wo wir waren, all das habe ich erst später rekonstruiert. Dort hat uns wieder jemand mit einem Zettel mit meinem Namen erwartet. Es war ein Deutscher, aber er konnte ein bisschen Spanisch.

Sie haben uns in einen Kleinbus gebracht, orange war er glaub ich. Das ist das erste Mal, dass ich über solche Sachen spreche (lacht). Von dieser Stadt – später erfuhr ich, dass es  Düsseldorf war – ging es nach Bochum. Damals waren diese Städte für mich ja aber unbekannt. Alles war schon dunkel. Als wir dann mit dem Auto auf die Autobahn und durch kleine Dörfer gefahren sind, lag alles dunkel, es gab kein Licht in den Häusern. Bei uns gibt es immer Licht, ganz egal um wie viel Uhr. Die Städte erschienen mir wie ausgestorben. Da hab ich so eine Angst bekommen... Es erinnerte mich an damals, als ich festgenommen wurde, nachts, an die Ausgangssperre, als alle Häuser dunkellagen ... Da kam die Erinnerung an all das wieder, wahrscheinlich war ich einfach hypersensibel.

Und dann kamen wir bei einem Studentenwohnheim an. Dort haben wir, meine damalige Freundin und ich, ein Zimmer bekommen. Es gab eine Küche, in der jeder einen Schrank mit seinen Lebensmitteln hatte, und einen großen Tisch, wo sich die Studenten versammelten. Hier hatten wir unsere ersten Kontakte. Ich erinnere mich an einen Griechen, ein paar Deutsche und ein paar Venezolaner. Die ersten zwei, drei Tage dachte wir: Was machen wir hier, wir kennen hier ja niemanden.

Am dritten Tag kam Pastor Heinz Dressel. Er war der Leiter des Ökumenischen Studienwerks, das auch ein Programm für Flüchtlinge hatte. Er erklärte mir, dass er in Santiago gewesen wäre und Kontakt zur Vicaría de la Solidaridad gehabt hätte. Sie hatten ihm in sein Hotel einige carpetas, einige Akten gebracht. Er hatte ein Stipendium, das er vergeben konnte. Die ganze Nacht hat alles durchgesehen und ist auch auf meine Akte gestoßen. Er hat die Leute ausgewählt, die mit gekommen sind. Wie die Entscheidungen gefallen sind, weiß ich nicht. Ihm verdanke ich es, dass ich schnell aus Chile ausreisen konnte.

 

Dein Aufenthalt in der Bundesrepublik wurde also durch das Stipendium ermöglicht?

Zu der Zeit kamen viele Leute aus Chile, aber auch aus Argentinien und Brasilien, wo es auch Militärdiktaturen gab. Normalerweise stellte man einen Antrag auf politisches Asyl. Ich war einer der ersten, die das nicht wollten. Ich hatte vorher schon mit Leuten darüber gesprochen, die mir erzählt haben, dass man als politischer Flüchtling in vielen Ländern, vor allem zu Zeiten des Kalten Kriegs, als Terrorist gegolten hätte.

Man sagte mir, ich müsse diesen Asylantrag stellen, aber ich weigerte mich. Also wurde mir ein Stipendium angeboten und ich habe ein Studentenvisum bekommen. Zum Studieren standen mir dann verschiedene Städte zur Auswahl: Bielefeldt, Münster, Nürnberg und Berlin. Ich bin dann nach Bielefeldt und Münster gegangen, hab mir alles angeschaut, mit den Professoren gesprochen. Dann hab ich Nürnberg besucht. Ich wollte etwas mit Lateinamerika machen. Hier habe ich Professor Hanns-Albert Steger kennen gelernt, der einige Doktoranden aus Lateinamerika hatte. Er bot mir an, hier zu studieren und zu arbeiten, also Kurse zu Lateinamerika, Spanischkurse und so weiter zu geben. Das fand ich sehr interessant. Also sind wir nach Nürnberg gekommen und ich habe noch mal ganz von vorne Soziologie studiert.

Eigentlich wollte ich gar nicht studieren, ich wollte nur die Zeit rum bringen, bis ich wieder nach Chile zurückgehen konnte. Ich hätte auch Betriebswirtschaftslehre studieren können, das hab ich ja in Chile auch schon. Aber ich dachte, Soziologie wäre vielleicht ein bisschen leichter, ich konnte ja auch die Sprache noch nicht. Außerdem war es ja nur vor übergehend, bis die Militärdiktatur endete und ich wieder zurück konnte. Zuerst mal lebte ich in einem Studentenwohnheim und machte einen Deutschkurs, um mich auf das Studium vorzubereiten. Das war nur zwei bis drei Mal die Woche, viel zu wenig für ein Studium auf Deutsch. In dem Moment war mir das aber egal, ich war erst mal nur hier, um mein Leben zu retten und Zeit zu gewinnen, um letztendlich wieder zurück zu nach Chile zu gehen. Nach einem Jahr habe ich die Deutschprüfung abgelegt und dann erst richtig angefangen, Soziologie zu studieren. Als ich das Studium abgeschlossen habe, wurde mir ein Promotionsstipendium angeboten. Das habe ich angefangen, aber nie zu Ende gebracht.

 

Wie hast du dein Leben hier in Deutschland empfunden? Hast du dich willkommen gefühlt?

In Bochum gab es eine ganz große Solidarität. Im ganzen Ruhrgebiet, Essen, Wuppertal, Dortmund und so weiter gab es überall Chile Komitees, jede Woche war irgendwas. Egal wo man hinging, alle Treffen wurden vom ökumenischen Studienwerk organisiert. Wir konnten am Anfang nicht viel Sprechen, aber es gab zum Beispiel ein Café, in dem wir Kuchen gegessen haben und die Leute alle sehr nett waren. Jeder hat mit Händen und Füßen probiert, mit uns zu sprechen. Ich kannte dort sehr viele Leute.

Ich hatte immer ein gutes Gefühl, auch hier in Nürnberg. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, die Menschen hier sind im Innern gut. Ich hatte auch fast nur Kontakt zu den Leuten, die sehr solidarisch und politisch waren. Sie waren mit Chile sehr sensibel, haben mich umarmt und immer gut aufgenommen. Und bis heute sind die Leute, die ich schon zu Beginn kennen gelernt habe, noch meine Freunde.

 

In Chile warst du politisch sehr engagiert. Ging das für dich in Deutschland weiter?

Eigentlich waren schon die letzten Jahre in Chile schwierig. 1975 war ich im Gefängnis und einige meiner Freunde waren auch schon kalt gestellt, sagen wir aus Sicherheitsgründen. Ich hatte immer Kontakte, von denen ich Informationen und Berichte bekommen habe, aber ich war schon nicht mehr politisch aktiv.

Seitdem ich dann hier war, hatte ich eigentlich keinen Kontakt mehr zu der Gruppe, in der ich in Chile aktiv war. Im Herzen war ich immer noch dabei, aber ich war in keiner Partei oder politischen Gruppe mehr engagiert. Ich war aber komplett in der Sache mit der Solidarität involviert. Ich war immer dabei, bin zu den Demos gegangen und so weiter. Ich habe mir immer die Chile-Nachrichten, später Lateinamerika Nachrichten gekauft, habe sie gelesen, habe mich in allen Foren informiert.

 

Im Ruhrgebiet war das Chile - Komitee ja sehr aktiv, gab es in Nürnberg auch Solidaritätsveranstaltungen?

Als ich nach Nürnberg kam, gab es das Lateinamerika - Komitee (LAK). Das wurde ein, zwei Jahre bevor ich nach Nürnberg kam gegründet. Da war ich von Anfang an aktiv und da kenne ich viele Leute, die immer noch politisch sehr aktiv sind.

 

Als die Militärdiktatur nach dem Referendum 1988 schließlich vorbei war, hattest du den Gedanken, wieder nach Chile zurückzukehren?

Eigentlich wollte ich nie in Deutschland bleiben. Aber irgendwann habe ich entdeckt: ich lebe nicht in Deutschland und ich lebe nicht in Chile. Ich lebe mit einem Fuß da und mit dem anderen Fuß hier. Warum kaufe ich mir einen Fernseher, wenn ich doch eh bald wieder nach Chile zurück gehe? Warum lerne ich Deutsch? Und eigentlich war das immer etwas, das mich gelähmt hat. Warum mehr Kraft investieren, wenn ich nicht hier bleibe?

Das war die erste Zeit. Und irgendwann ist mir klar geworden, dass die Diktatur in Chile länger dauern könnte, wie auch schon die Diktatur mit Franco in Spanien. Dann habe ich angefangen, hier mehr zu arbeiten, mehr zu leben. Ich dachte, bevor ich nach Lateinamerika zurückgehe, nutze ich die Zeit hier, schaue mir Deutschland und Europa an. All das Geld, das ich damals verdient habe, habe ich in Reisen investiert.

Ich liebe Nürnberg, das ist meine Heimat. Es ist meine Heimat geworden. Die Leute haben mich sehr gut behandelt, hier leben meine besten Freunde. Also eigentlich hab ich mich entschieden, hier zu leben. Und als ich mich dazu entschieden habe, da war alles so einfach. Ich lebe jetzt schon mittendrin, ich habe Freunde, meine Frau ist Deutsche. Ich kenne alle Lateinamerikaner, die hier leben. Alle kommen mal vorbei, trinken einen Espresso und so weiter. Ich würde sagen, 80% meiner Freunde sind Deutsche, andere kommen aus Lateinamerika, Frankreich und anderen Ländern, ich mache da keinen Unterschied, solange sie nett sind. Ich habe sehr gute Freunde aus allen Ländern. Aber ich lebe hier, meine Familie ist hier. Ich habe Kinder, sie sind Deutsch-Chilenen. Und dann kannst du nicht mehr zurückgehen. Ich bin auch schon zu alt, um nach Chile zu gehen. Ich müsste mich dort selbstständig machen, aber das wäre sehr teuer. Es ist nicht so einfach.

Wenn deine Umgebung positiv und freundlich ist, bewegst du dich wie ein Fisch im Wasser. Und so fühle ich mich. Ich kenne die Sprache – das Problem für alle Ausländer ist die Sprache, damit kannst du dich besser integrieren.

 

Warst du seitdem wieder in Chile?

Ja, ich versuche alles zwei bis drei Jahre nach Chile zu gehen. Mein Vater ist gestorben, als ich hier studiert habe. Meine Mutter lebt und ich versuche so oft es geht, sie zu besuchen, für ungefähr fünf Wochen immer. Letztes Jahr waren wir erst wieder dort, da sind wir länger geblieben. Die erste Zeit verbrachten wir bei meiner Mutter und die andere Hälfte in Südchile, Patagonien. Wir verbinden jede Reise auch mit dem Geschäft und suchen nach Künstlern und Wein.

 

Vielen herzlichen Dank für das Gespräch, Alejandro.

Gerne. Was ich hier an der Uni mache... ich versuche das gut zu machen, das ist für mich wie ein „Dankeschön“. Was ich hier mache, macht mir viel Spaß. Und damit versuche ich, ein klein bisschen von dem zurückzugeben, was ich an Gutem von dieser Gesellschaft bekommen habe. Das ist meine Lebenseinstellung.

Nicole Scharrer

Juni 2016

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